Bewährungsprobe für das Konzept Europa

16.09.2015
Bewährungsprobe für das Konzept Europa
Erst die Griechenland-Krise und nun der Flüchtlingsstrom halten Europa in Atem und nehmen die Kapazitäten im „Top-Management“ der Region massiv in Beschlag. Dabei gibt es noch andere strategisch wichtige Aktionsfelder, zu denen möglichst bald tragfähige Konzepte entwickelt und umgesetzt werden müssen.
Das strategische Ziel der europäischen Gemeinschaft lag ursprünglich in der Friedenssicherung, bekam aber rasch auch eine ökonomische Komponente: Es sollte ein leistungsfähiger Wirtschaftsraum entstehen, der im Vergleich zu seinen einzelnen Mitgliedsstaaten ein erheblich größeres Gewicht im Weltgeschehen hat.

Dieser Plan ist in wichtigen Teilen aufgegangen: 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis, die Zahl der Mitgliedsländer ist von den sechs Gründungsmitgliedern auf heute 28 Nationen angestiegen und das gemeinsame Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt aktuell leicht über dem der USA und deutlich vor dem Chinas.

Doch die Entwicklungen der letzten Monate zeigen deutlich, dass der Gemeinschaftssinn innerhalb der EU zunehmend verloren geht. Immer häufiger stellen einzelne Mitgliedsstaaten ihre Eigeninteressen in den Vordergrund oder unterstellen anderen, dies zu tun.

Aktuell bringt vor allem der enorme Ansturm von Flüchtlingen nach Europa Konflikte. Die Bereitschaft, diese Menschen im eigenen Land aufzunehmen, ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Gleichzeitig ist das Engagement der europäischen Regierungen, die Lage in den Ursprungsländern nachhaltig zu verbessern, bei weitem nicht ausreichend.

Griechenland kostet die Europäische Union immer wieder eine Unmenge an Zeit, Geld und Nerven, ohne selbst einen adäquaten Beitrag zur Gemeinschaft geben zu wollen. Die Sorge ist groß, dass andere schuldengeplagte EU-Staaten diesem Beispiel folgen. Das Wort Transferunion wird immer häufiger genannt. Die britische Regierung denkt inzwischen laut über den Ausstieg aus der EU nach und immer mehr Stimmen kritisieren die Rolle Deutschlands in der Gemeinschaft.

Trotz aller politischen Widrigkeiten fallen die aktuellen Konjunkturzahlen für Europa positiv aus. Grund dafür ist unter anderem der niedrige Ölpreis. Diesen Vorteil hat sich Europa allerdings nicht selbst erarbeitet, sondern wird maßgeblich durch die erdölfördernden Länder bestimmt. Ein weiterer positiver Konjunkturfaktor ist der schwächelnde Euro, der die Exporte beflügelt, aber auch das schwindende Vertrauen internationaler Investoren in die Wirtschaftskraft der Gemeinschaft widerspiegelt.

Ebenfalls wachstumsfördernd wirkt das seit Jahren anhaltende Rekordtief bei den Zinsen. Aber ein Großteil dieser expansiven Strategie der EZB erreicht nicht den Realsektor der Wirtschaft, stattdessen boomen die Märkte für Aktien, Immobilien und andere Vermögenswerte. Zudem hat sich die EZB durch Anleihekäufe im großen Stil und finanzielle Nothilfen für wahrscheinlich insolvente Banken in Griechenland auf einen fragwürdigen Kurs begeben, der das Vertrauen in die Unabhängigkeit von Notenbank und die Politik in Europa spürbar erschüttert hat.

Aber die europäische Konjunktur wird nicht nur gefördert, sondern auch durch erhebliche strukturelle Probleme belastet, wie z. B. die nachlassende internationale Wettbewerbsfähigkeit. Sie zeigt sich nicht nur in den sogenannten Peripherieländern, sondern zunehmend auch in großen Kernländern wie Frankreich oder Italien. Auch Deutschland muss sich die Frage stellen, ob es genug für dieses Thema tut. Strukturreformen innerhalb Europas sind vor allem in den Bereichen Ausbildung, Infrastruktur und Arbeitskosten unerlässlich, um für die Zukunft gut gerüstet zu sein

All diese Einzelaspekte zeigen, dass sich die Umsetzung der europäischen Idee knapp 65 Jahre nach ihrer Institutionalisierung in einer kritischen Phase befindet. Um sie eine Erfolgsgeschichte werden zu lassen, müssen sich alle Beteiligten auf die verfolgten Ziele der Gemeinschaft rückbesinnen und diese für so wertvoll halten, dass sich die dazu notwendigen und teilweise durchaus schmerzhaften Reformen und Kompromisse lohnen.

© Schlegel und Partner 2015